Presseberichte aus dem Jahr 2009

Draisinenfahrer und Bahnlatscher: Auf dem Abstellgleis

 

Quelle: https://www.spiegel.de/reise/europa/draisinenfahrer-und-bahnlatscher-auf-dem-abstellgleis-a-633683.html

09.07.2009, 05.30 Uhr, von Jochen Bölsche

 

Tausende Glühwürmchen taumeln im Jammerholz durch die laue Nacht. Hier bei Grabow sollen der Legende nach die Slawen ihre Eltern erschlagen haben. In der Ferne wird das leise Klackern von Schienenstößen vernehmbar, nächtliche Besucher nähern sich auf den rostigen Gleisen einer fast vergessenen Bahnstrecke - und so bizarr wie die Gegend sind auch ihre Gefährte: Draisinen.

"Die meisten Fahrgäste haben noch nie ein Glühwürmchen gesehen", beschreibt der Hamburger Eisenbahn-Enthusiast Wolfgang Tauchert die Begeisterung der Reisenden angesichts des flimmernden und glimmenden Sommernachtstraums, "so wie sie vorher auch noch nie mit einer Draisine gefahren sind".

Nicht nur auf der stillgelegten Jeetzeltalbahn im niedersächsischen Wendland feiert derzeit ein Schienenfahrzeug sein Comeback, das die meisten Deutschen höchstens aus Wildwest- und anderen Spielfilmen kennen. Die muskelbetriebene Draisine, ursprünglich von Bahnarbeitern für Kontroll- und Reparaturfahrten genutzt, ist zu einem Freizeitvehikel mit verblüffenden Zuwachsraten geworden.

Innerhalb von fünf Jahren hat sich in Deutschland die Zahl der Strecken, die Touristen mit gemieteten oder mitgebrachten Draisinen befahren können, verfünffacht - von 6 auf 30. Insgesamt sind in der Bundesrepublik mittlerweile rund 450 Kilometer Schienenstränge auf diese Weise nutzbar; das entspricht der Entfernung Hamburg - Nürnberg. "Und fast jeden Monat kommen neue Strecken dazu", freut sich Bahnfreund Tauchert, Aktivist eines eingetragenen Vereins namens I. G. Draisinenfahrten (IGD).

 

Erschöpfte, aber strahlende Senioren

Die Draisinenfahrer sind nur eine von vielen Fangruppen, die den Bahnkörper als Freizeitgelände entdeckt haben. Im Gegensatz zu den klassischen Eisenbahnfreunden - die sich selbstironisch als "Pufferknutscher" und "Ferrosexuelle" bezeichnen, Dampfloks retten oder als "Trainspotter" Loks fotografieren - zielt ihr Interesse auf jene Strecken, die von der Bahn aufgegeben worden sind.

Während sogenannte Bahnlatscher und Bahnarchäologen die überwucherten Bahndämme und verfallenden Tunnel zunehmend als Wanderwege oder als Forschungsobjekte entdecken, bemühen sich Touristiker landauf, landab, stillgelegte Strecken - übliche Steigung: rund zwei Prozent - als Radwege zu nutzen. Am meisten Aufsehen erregen zurzeit allerdings die Nutzer der sonderbaren Draisinen.

Auf Interesse stoßen die Schienenfahrzeuge laut Tauchert nicht zuletzt bei "alten Menschen, die ein Leben lang davon geträumt haben, Draisine zu fahren", weil sie so ein Ding früher mal im Kino gesehen haben - etwa in "Ich denke oft an Piroschka" mit Lieselotte Pulver oder in "Der General" mit Buster Keaton. Den Zielbahnhof erreichten die strampelnden Senioren durchweg "erschöpft, aber mit strahlenden Augen". Besonders beliebt seien die Schienentouren bei Vereinen, Schulklassen und auch Familien.

Ob die Touristen auf sogenannten Fahrraddraisinen in die Pedale treten oder sich auf Hebeldraisinen mit wippenartigem Antrieb durch die Gegend pumpen - in der Regel lernen sie abgelegene, reizvolle Landschaften kennen. Denn vor allem aus solchen Regionen hat sich die Bahn zurückgezogen, seit sie bemüht ist, sich vom nationalen Netzbetreiber mit Sozialauftrag in einen smarten Global Player mit Börsenträumen zu verwandeln.

Auf der Strecke geblieben sind dabei Hunderte von verwunschenen kleinen Bahnstationen mit Namen wie Kronprinzenkoog (im schleswig-holsteinischen Dithmarschen) oder Ostereistedt (im niedersächsischen Osteland), Kummersdorf (im brandenburgischen Fläming) oder Alverdissen (im westfälischen Extertal). Erreichbar sind diese Stationen jedoch weiterhin mit den urigen Wipp- und Tretfahrzeugen, die ihren Namen Karl Friedrich Freiherr Drais von Sauerbronn verdanken. Der badische Adligen erfand 1817 mit der "Schnelllaufmaschine" den Vorläufer des heutigen Fahrrads.

 

Komplettprogramme vom "Draisinenkönig"

Mit modernen Komfortdraisinen, teils ausgestattet mit Sonnenschutzdach und Siebengangschaltung, Luftreifen und Kunststoffspurkränzen, lassen sich in Deutschland derzeit Strecken befahren, deren Länge zwischen 2 und 41 Kilometern variiert. Auf der längsten Route, im rheinland-pfälzischen Glantal, verkehren ganzjährig sogar 87 Draisinen, "außer bei Eis auf'm Gleis".

So verschiedenartig wie die Strecken sind die Initiatoren. Zu ihnen zählen geschäftstüchtige Männer wie Axel Pötsch. In der Szene als "Draisinenkönig" bekannt, hat der brandenburgische Unternehmer rund um Berlin und in der Nähe des niedersächsischen Zeven mehr als 100 Kilometer Schienenwege zusammengekauft. Auf seinen Gleisen offeriert die "Nummer eins in Deutschland" beispielsweise Draisinen-Komplettprogramme mit Bootstour oder Baumstammsägen, Badeausflug und einer "Übernachtung im Bahnwaggon".

Zu den Betreibern zählen aber auch kleine gemeinnützige Hobbyisten-Vereine: etwa die "Draisinen-Freunde Mittelholstein", deren gerade mal vier Fahrzeuge nur bei Bedarf verkehren, aber "in der Zeit der Rapsblüte immer ausgebucht sind", wie die Vorsitzende Cornelia Diederich sagt. Der Verein kämpft für die Erhaltung eines 1986 stillgelegten, zeitweise zugewachsenen Schienenstrangs in der Nähe von Neumünster, den die Ehrenamtlichen selber freischneiden mussten - "Knochenarbeit, die uns nachts einen gesunden Erholungsschlaf beschert hat".

Motiviert sind die holsteinischen Idealisten - wie auch die Mitglieder vieler anderer Betreibervereine - durch eine Mischung aus nostalgischer Eisenbahnromantik und handfesten umweltpolitischen Ambitionen. Sie halten den Stilllegungskurs der Bahn für einen ökologisch verhängnisvollen Irrweg. Gerade angesichts steigender Energiekosten müsse die Option offengehalten werden, die aufgegebenen Strecken eines Tages wieder mit Zügen zu befahren.

 

"Ein unwiderrufliches Fiasko"

Der Draisineneinsatz soll daher dazu beitragen, Schienenwege zu erhalten, die von der Bahn zwar nicht mehr genutzt werden, aber juristisch zum Teil noch nicht "entwidmet" sind. Nach Vollzug dieses Rechtsakts droht die Verschrottung der Schienen, der Rückbau der Anlagen und die Verramschung des Bahngeländes - "ein bodenloser Frevel, ein unwiderrufliches Fiasko", das auch die holsteinischen Draisinenfreunde um Cornelia Diederich für ihre Bahnstrecke befürchten müssen.

Die Erhaltung der Trasse durch den Glühwürmchen-Wald zwischen Uelzen und Dannenberg haben sich die dortigen Draisinen-Fans aus ähnlichen Gründen auf die Fahnen geschrieben. Ein örtlicher Förderverein will verhindern, dass "ein Stück öffentlicher, vom Steuerzahler bezahlter Infrastruktur den privaten Interessen eines Schrotthändlers geopfert" wird. Der Verein sieht im Draisinenverkehr eine "Zwischenlösung" bis zu einer angestrebten "Reaktivierung" der Strecke - und obendrein einen Beitrag zum "wirtschaftlichen Aufschwung" einer strukturschwachen Gegend am einstigen Zonenrand.

Zumindest die Pläne zur Belebung der Region durch Ausflügler könnten aufgehen. Denn wo immer in jüngster Zeit Draisinenstrecken in Deutschland eingerichtet worden sind, haben sie sich, so die IGD, als "touristische Volltreffer" erwiesen. Beliebt sind vor allem Routen durch besonders reizvolle Landschaften, beispielsweise der "Wuppertrail" im Bergischen Land oder die historische "Kanonenbahn" in Thüringen. Dort können Touristen unter anderem Vollmondfahrten im Fackelschein über ein 244 Meter langes und 23 Meter hohes Viadukt buchen.


 

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Trassentouristen Rostbratwürste mitführen sollten und was Inline-Skater und Skilangläufer an ehemaligen Bahnstrecken reizt.

 

Auch ehemalige Bahnstrecken, von denen die Schienen längst verschwunden sind, locken mehr und mehr Ausflügler. Auf Seiten wie www.verkehrsrelikte.de oder www.stillgelegt.de schwärmen Bahnfreunde vom Charme verwilderter Trassen und verfallender Stellwerke, von der Entdeckung zugemauerter, aber illegal aufgebrochener Tunnelbauten, in denen sich heimlich die Dorfjugend trifft, und von überwucherten einstigen Militärgleisen, die nur noch per Metalldetektor auffindbar sind.

Ungezählte Websites berichten über Streckenbegehungen überall in der Bundesrepublik, auf deren Gebiet seit der Blütezeit der Eisenbahn, zwischen den Weltkriegen, fast ein Drittel der einstmals 60.000 Kilometer Schienenstrecke stillgelegt worden sind. Auf den Spuren früherer Eisenbahnherrlichkeit entdeckten derzeit immer mehr Menschen, so der Freiburger Bahnwanderer Marc-André Schygulla, "die idyllischsten Winkel unserer Republik, die landschaftlich schönsten Ecken". Eine "Tunneldatenbank" auf seiner Website umfasst bereits mehr als 2000 Fotos.

 

Von Taxifahrern misstrauisch beäugt

"Nie war das tote Gleis lebendiger," freut sich Schygulla, der allerdings auch vor Unfallgefahren warnt: Das Betreten alter Bahnbrücken und Tunnel sei "meistens lebensgefährlich". Als riskant könne sich auch die Annäherung an ehemalige Bahnhöfe erweisen, die heute als Wohnhaus genutzt und von Hunden bewacht werden: "Zur Eigensicherung im Umfeld privater Empfangsgebäude hat sich das Mitführen Thüringer Rostbratwürste bewährt."

Ertragen müssen Trassenwanderer neben langen Durststrecken in der gastronomiearmen Peripherie auch "misstrauische Blicke von Taxifahrern, wenn man als Fahrtziel eine alte Weiche oder einen ehemaligen Güterbahnhof angibt", sagt Michael Frömming. Der Bahnlatscher hat auf seiner Website begonnen, kartografisch und fotografisch die 3000 Kilometer Schienenstrecke zu erfassen, die allein in Niedersachsen stillgelegt worden sind. Immerhin rund 200 Kilometer ist Frömming schon abgewandert, der im Hauptberuf als Verkehrsexperte für den Bremer Senat tätig ist und ehrenamtlich als niedersächsischer Landesvorsitzender des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) wirkt.

Der Wanderer, der in diesem Sommer eine einstige Bahnstrecke im Herzen des Harzes abklappern will, räumt ein, dass sein "ambitioniertes Hobbytum" auf Außenstehende "vielleicht etwas verrückt" wirke. Das Bahnlatschen habe jedoch einen "ernsten politischen Hintergrund": Die alten Trassen dürften nicht in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit verblassen. Zudem müssten die Entwidmung und Verbauung weiterer Schienenwege verhindert werden, um die Strecken wiederbeleben zu können, wenn Energiepolitik und Klimaschutz eine Rückbesinnung auf den Schienennahverkehr erzwingen.

Mut macht dem Verkehrsexperten die Geschichte einer schon aufgegebenen Strecke quer durch das niedersächsische Teufelsmoor, die sich zum "Leuchtturmprojekt" entwickelt habe. Nachdem sich "Land, Kommunen und Touristiker an einen Tisch gesetzt hatten", transportiert auf der wiederbelebten Route ein nostalgischer "Moorexpress" Wochenendler von Stade nach Worpswede; mittelfristig soll die Trasse auch werktags wieder befahren werden. Das "Vorbildprojekt Moorexpress" zeige, urteilte der Stader Landrat Michael Roesberg beim jüngsten niedersächsischen VCD-Kongress, dass "touristische Verkehre als Türöffner für die Entwicklung des Schienenverkehrs in der ländlichen Region" taugten.

 

Per Fahrrad in das "Große Schlitzohr"

Einen "Beitrag zur Sicherung ehemaliger Bahntrassen" vor der endgültigen Zerstückelung sehen Verkehrsexperten auch in dem Trend, bereits stillgelegte Bahnstrecken und -dämme in Radwanderwege umzuwandeln. Bereits heute gibt es, so der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), in der Bundesrepublik rund 450 Bahntrassen-Radwege, rund 50 weitere sind in Planung.

Die Routen führen weitgehend kreuzungsfrei und abseits des Straßenverkehrs auf 15 Meter hohen Dämmen durch das Ruhrgebiet ("Erzbahntrasse"), 90 Kilometer weit durch Hessen ("Vulkanradweg") oder durch einen Tunnel namens "Großes Schlitzohr" durch die Eifel ("Maare-Mosel-Radweg"). Beliebt sind die zumeist asphaltierten Routen mit ihren häufig großartigen Aussichten, komfortablen Radien und geringen Steigungen nicht nur bei radelnden Familien, sondern auch bei Nordic Walkern, Inline-Skatern, Rollstuhlfahrer und, im Winter, bei Skilangläufern.

Welches enorme touristische Potential in ehemaligen Bahnstecken steckt, zeigt sich in den USA: Die "Rails-to-Trails Conservancy", eine gemeinnützige Initiative mit rund hunderttausend Anhängern, hat dort seit den achtziger Jahren 1200 frühere Trassen erhalten, indem sie darauf Rad- und Wanderwege angelegt hat.

Auf diese Weise bleibt das Land in der öffentlichen Hand, so dass es bei Bedarf eines Tages wieder für den Bahnstrecke genutzt werden könnte. Bis dahin dienen die Routen als "healthier places for healthier people" der Fitness ihrer Nutzer. Und das sind nicht wenige: Rund eine Million Radler rollen jährlich über den Pinellas Trail in Florida, zwei Millionen über den Minuteman Railway in Massachusetts, sogar drei Millionen über den W&OD Railroad Trail in Virginia.

 

IGD Hamburg 0